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“Wir überlassen die Natur zu 100 Prozent sich selbst“

Die Natur einfach mal sich selbst überlassen: Im Dezember hat die Verbandsversammlung des RVR für einen Teil der verbandseigenen Waldflächen so genannten Prozessschutz beschlossen.

Danach werden rund 1.000 Hektar (6,5 Prozent) des RVR-Waldbesitzes dauerhaft aus der forstwirtschaftlichen Nutzung genommen. Die Flächen sollen sich ohne direkte menschliche Einflüsse entwickeln und so zum Schutz der natürlichen Ökosysteme und der Artenvielfalt beitragen. Im Interview erläutern Holger Böse, neuer Betriebsleiter des Eigenbetriebs Ruhr Grün, und Fachbereichsleiter Dr. Dirk Bieker die Hintergründe.

Was genau bedeutet Prozessschutz?

Bieker: Wenn wir über Prozessschutz im Wald reden, dann heißt das: Wir machen dort nichts mehr. Wir fällen keine Bäume mehr und führen auch keine weiteren Maßnahmen durch. Auch Pflegearbeiten, die selbst im Naturschutz im Wald manchmal notwendig sind, finden nicht mehr statt. Wir überlassen die Natur zu 100 Prozent sich selbst.

 

Nachhaltiges Zukunftskonzept

Das Motto ist also: Die Natur einfach mal Natur sein lassen. Welche Vorteile hat das?

Bieker: Es ist natürlich genau das, was der Wald schon immer kannte und wie er entstanden ist. Wenn Sie sich die Menschen wegdenken, würde ja keiner einen Baum fällen. Der Baum würde von selbst sterben. Wenn man das potenzielle Alter eines Baumes und den Zeitpunkt der Fällung auf den Menschen übertragen würde, dann wäre es ungefähr so: Wenn Sie gerade volljährig werden, kommen Sie ins Sägewerk. Denn dann haben Sie wirtschaftlich den höchsten Wert. Ihr Beitrag für die Gesamtgesellschaft als Person oder als Baum für den Wald wird aber im Nachgang eigentlich noch viel größer. Nehmen Sie eine Eiche, die eigentlich 600 Jahre alt wird. Die wird mit 150 schon gefällt, dann fehlen 450 Jahre. Wenn sie aber langsam reifer wird, dann entstehen Mikrohabitate, da entwickeln sich Lebensräume am und im Baum, die sich bei einem sehr vitalen und gesunden Baum erst mal nicht ergeben.

Böse: Wenn Bäume absterben und umfallen, wird das Holz nicht mehr von uns als Balken oder sonst wie genutzt, sondern steht diversen Tieren zur Verfügung. Anders gesagt: Totholz, das nicht entnommen wird, wächst zwar nicht weiter, bildet aber wertvollen Lebensraum.

Welche Tiere nisten sich denn da ein?

Bieker: Sie haben da ganze Lebensgemeinschaften zum Beispiel von Käfern. Und auch Pilze entstehen nicht im kerngesunden Holz, sondern da braucht es einen Zersetzungsprozess. Insgesamt ist das Ökosystem immer schon darauf angewiesen gewesen, dass der Wald stirbt. Die Lebenszeit eines Baumes auf ein Viertel zu reduzieren, sorgt dafür, dass ganze Arten von Käfern, Pilzen und Bakterien nicht mehr da sind. Diese Lebensräume werden sich jetzt wieder entwickeln können.

Prozessschutz-Flächen in NRW verdreifacht

Und was ist jetzt das Ziel? Ein Urwald?

Bieker: Dazu muss man sagen: Per Definition existiert in Deutschland kein Urwald mehr. Wir haben überall unsere Finger schon mal im Spiel gehabt. Deshalb spricht man da von sekundären Urwäldern. Aber wenn Sie 300 Jahre weiterdenken, sollte das tatsächlich so aussehen, wie wir uns einen Urwald vorstellen. Es kann aber durchaus sein, dass Sie die Entwicklung selbst in 20 Jahren auf den ersten Blick gar nicht erkennen. Wenn wir über 100 Jahre reden, dann sehen Sie sofort: Hier ist irgendwas anders. Da liegen Trümmer von Bäumen rum, die nach einigen Jahrzehnten mit Moos bewachsen sind, wo sich ganz andere Strukturen entwickeln. Wir wollen einfach wieder Raum geben für diese Entwicklung, für diese Arten, um das Ökosystem und die Biodiversität zu stärken. Man kann sich das Ökosystem vorstellen wie ein Fischernetz: Es macht erst mal nichts, wenn sie an einer Stelle eine Masche durchschneiden. Auch nicht bei zwei, drei oder fünf Maschen. Aber irgendwann ist der Punkt erreicht, wo Sie eine Masche zu viel durchgeschnitten haben.

Was müssen Sie in diesen Bereichen denn künftig überhaupt noch tun? Brauchen Sie da gar keinen Förster mehr?

Bieker: Er muss schon ab und zu mal gucken, wie es da aussieht und ob vielleicht ein Baum über den Weg gefallen ist. Wenn man sich anschaut, wie sich diese 1.000 Hektar verteilen – es sind ja insgesamt nur 6,5 Prozent unserer Waldfläche –, dann verstreut sich das relativ gleichmäßig auf die Reviere. Unsere Revierleiterin und unsere Revierleiter haben also nicht unbedingt weniger Arbeit.

6,5 Prozent – manch einer mag jetzt sagen, das sei recht wenig…

Bieker: Aber es ist notwendig und wichtig. Es wird ja häufig ein Ziel von zehn Prozent angegeben, auch in der Biodiversitäts-Strategie des Ruhrgebiets. Aber in einem Ballungsgebiet ist das besonders schwierig. Wir haben wir uns schon sehr gestreckt, um auf die 6,5 Prozent zu kommen. Bisher waren im Wald in ganz NRW etwa 350 Hektar im Prozessschutz; in der Metropole Ruhr keine 70 Hektar. Jetzt sind es 1.000. Wir haben die Zahlen also mit einem Schlag landesweit verdreifacht. Mittelfristig kann es schon sein, dass man noch mal ein bisschen über die 6,5 Prozent hinausgeht. Wir haben jetzt erst mal zehn Jahre Zeit, diese Flächen noch mal richtig zu sichern. Und dann wird man sehen, wo es vielleicht Sinn macht, kleinere Bereiche noch zusätzlich auszuweisen.

Böse: Dr. Bieker hat ja ausgeführt, dass wir alte Bäume brauchen. Der Baumbestand bei Ruhr Grün ist eher jung geprägt. Rund 45 Prozent sind bis 60 Jahre alt, und 22 Prozent sind über 100 Jahre. Da muss schon sehr genau geguckt werden: Welche Gebiete eignen sich für den Prozessschutz – und welche nicht?

Investition in Biodiversität und das heimische Ökosystem

Man hört ja immer von unterschiedlichen Konzepten. Da gibt es die einen, die wollen den Zustand eines Ökosystems mit pflegerischen Mitteln aufrechterhalten. Und andere sagen: Lasst die Natur einfach machen. Ist Prozessschutz denn jetzt gut oder schlecht?

Bieker: Ich war neulich im Kölnischen Wald in Bottrop. Da gehen Sie den Weg entlang, und links machen Sie Prozessschutz im Buchenwald, und es ist genau das Richtige. Rechts haben Sie einen Eichenwald, der ist alt und für Prozessschutz genau der Falsche. Denn Eichenwälder sind kulturhistorische Wälder, die brauchen Pflege. Da muss man dann ins Detail gucken, was man macht.

Böse: Es gibt freie Flächen, die wir gerade speziell pflegen, um die Biodiversität zu erhalten. Aber auf den Flächen, die Dr. Bieker mit seinem Team herausgesucht hat, halte ich den Prozessschutz für richtig und enorm wichtig.

Wie reagieren eigentlich die Besucherinnen und Besucher darauf, wenn im Wald alles liegen bleibt?

Bieker: Das hängt von der Sichtweise der Leute ab. Wenn man das Thema Wildnis aufgreift und die Menschen fragt, ist das sehr positiv belegt. Und dann gibt es natürlich Leute, die zum Beispiel regelmäßig Brennholz brauchen. Die wundern sich dann, wieso die Bäume da liegen bleiben und wieso man die nicht in den Ofen stecken kann. Wenn man aber vermittelt, dass Wildnis wichtig für die Natur, für die Tiere ist, kommt es meistens gut an. Man muss es nur erläutern, dass das nicht daran liegt, dass der Förster faul ist, sondern dass das eine gezielte, nachhaltige Maßnahme ist.

Böse: Wichtig ist, das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass der Wald nicht mehr aufgeräumt sein muss. Das muss man nicht nur auf den Wald beziehen, das kann man ja auch vor der eigenen Tür praktizieren. Muss der Garten immer sauber aufgeräumt sein? Und wieviel Lebensraum brauchen wir auch im Kleinen?

Wie informieren Sie die Menschen über das Konzept? Stellen Sie Schilder auf?

Bieker: Das wird mit Sicherheit noch passieren. Aber man muss halt überlegen, wie und in welchem Umfang man das macht. Wir wollen unsere Wälder ja auch nicht plakatieren.

Böse: Es geht nicht darum, dass wir unterschiedliche Waldbilder beschreiben, sondern darum, dass sie da sind. Ich komme gebürtig aus dem Sauerland, da ist man mit der Fichte groß geworden, schön in Reih und Glied und alle sauber gepflegt. Und hier kann man jetzt  sehen, dass der Wald auch mal Wald sein darf. Außerdem bieten wir Führungen an, wo man sich alles zeigen und erklären lassen kann.


Eine Übersicht über alle anstehenden Exkursionen, Workshops oder Führungen, die RVR Ruhr Grün in diesem Jahr anbietet, liefert die Broschüre “Waldwildnis 2023“, die kostenlos in der RVR-Mediathek geladen werden kann.

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